Holztor vor grünem Berg und Küste

Spenden und Stiften im Christentum

Wo steht das Christentum mit den theologischen Arbeiten zur Gabetheorie?

Eine durchaus ambitionierte Frage, weil das zu vermessende Terrain kaum größer sein könnte. Dabei gilt es jetzt schon zu konstatieren: Es existiert keine Theologie der Gabe. Im Judentum ebenso wenig wie im Christentum – auch in den nächsten fünf Jahren werden wir über keine Theologie der Gabe „verfügen“.

Die theologischen Publikationen zum Gabehandeln im deutschsprachigen Raum sind noch immer überschaubar. Aber es gibt viele Vorarbeiten und Forschungen in den unterschiedlichsten theologischen Disziplinen, die in Zukunft vereint werden können. Erst allmählich formieren sich Personen, Institutionen und Orte, die diesen Diskurs vorantreiben.

Meine Ausführungen beruhen in Teilen auf meinem Beitrag „Grundzüge einer Theologie der Gabe“ in dem 2008 erschienenen Band Geben und Gestalten – Brauchen wir eine neue Kultur der Gabe?.

Sie sollen einen Überblick geben, Betätigungsfelder und Anknüpfungspunkte benennen und zukünftige Handlungsspielräume aufzeigen.

1. Sozialphilosophische Zugänge

Mit seinem Essai sur le don von 1925 hat der französische Soziologe Marcel Mauss den Diskurs über Gabe angestoßen. Mauss resümiert in dieser Schrift seine ethnologischen Studien, die er bei mehreren indigenen Stämmen über Jahre fundiert und angereichert hat. Die Faszination, die der Essay in der wissenschaftlichen Debatte ausgelöst hat, ist bis heute ungebrochen. Mauss geht davon aus, dass das Geben und Nehmen zu den elementaren Gesten des Menschen gehört. Es sei zentral für menschliches Leben überhaupt. Geben und Nehmen generiert und erhält Beziehungen zwischen Menschen, reguliert Nähe und Distanz.

Wie lauten nun Mauss’ Thesen kurzgefasst, wie sie in der Theologie aufgenommen und weitergeführt werden? Geben ist die „totale soziale Handlung“. Im Geben sieht Mauss das gesamte menschliche Handeln zusammengefasst und zusammenlaufen. Geben konstituiert, generiert und erhält Beziehungen: „Der Gabentausch ist das beziehungsstiftende Band zwischen Personen und Kollektiven.“ Durch das Geben wird Sozialität als ganze und damit auch die Gesellschaft konstituiert. Gaben sind stets ambivalent und deutungsoffen. In den Gaben ist der Geist des Gebers präsent. Und dann die vielleicht wichtigste These:

Die Gabe ist zirkulär. Es gibt also immer einen Prozess von Geben, Annehmen und Erwidern. Deshalb existiert auch in der Literatur dieser eigentümliche Begriff des „Gabehandelns“, weil für Mauss die Gabe selbst nur der erste Schritt in diesem Prozess ist. Also: Das Gabehandeln ist zirkulär, führt also irgendwie zum Gebenden zurück.

„Reziprozität“ ist ein weiterer Begriff, der für diese Beschreibung zentral ist. Der Gabevorgang ist Mauss zufolge immer und nur reziprok zu denken. Die Gabe erzeugt immer eine Gegengabe. Ohne Gegengabe ist die Gabe nicht zu denken. Eine „reine“ Gabe existiert nicht auf der Welt, sie ist im Grunde gar nicht zu denken:

„Die Gesellschaften haben in dem Maße Fortschritte gemacht, wie sie selbst, ihre Untergruppen und Individuen fähig wurden, ihre Beziehungen zu festigen, zu geben, zu nehmen und zu erwidern. Um zu handeln, mussten die Menschen es zunächst fertigbringen, die Speere niederzulegen. Dann konnte es ihnen gelingen, Güter und Personen auszutauschen, und zwar nicht nur zwischen Clans, sondern zwischen Stämmen und Nationen und vor allem zwischen Individuen. […]

Auf diese Weise haben es die Clans, Stämme und Völker gelernt […], einander gegenüberzutreten, ohne sich gegenseitig umzubringen, und zu geben, ohne sich anderen zu opfern. Dies ist eines der Geheimnisse ihrer Weisheit und ihrer Solidarität. Es gibt keine andere Moral, keine andere Ökonomie und keine andere gesellschaftliche Praxis als diese.“


Es ist diese irenische Dimension, die Mauss in der Gabe erblickt. Wer gibt, tötet nicht. Präziser: „Die Gabe leistet für segmentäre, was der Staat für moderne Gesellschaften leistet: sie schafft und garantiert Frieden.“

Die Gründe, warum gegenwärtig von einem Boom der Gabetheorie zu sprechen ist, hängen mit dem Anspruch von Mauss zusammen, der stärker nicht sein könnte: Nur über die Gabe kommt es zu einem angemessenen Verständnis von Personen, ihren Handlungen und Kollektiven.

Die ausgeführten Thesen, die sich aus den Arbeiten von Marcel Mauss ergeben, lassen sich in fünf Punkten zusammenfassen:

  • Die Gabe ist beziehungskonstituierend zwischen Personen und Kollektiven.
  • Der Gabe kommt in Gesellschaften eine sozialintegrative Funktion zu.
  • Die Gabe schafft und garantiert ein friedliches Miteinander zwischen Personen und Kollektiven.
  • Gaben sind auf Reziprozität angelegt und evozieren selbst als freiwillige Leistungen Formen der Großzügigkeit.
  • Gaben sind bedeutungsoffen; doch ist es ausschlaggebend, jeweils nach dem „Geist“ zu fragen, der jeder Gabe innewohnt.

Die Hauptkritik an Mauss kommt von dem französischen Philosophen Jacques Derrida und hat in der Theologie eine ebenso große Beachtung gefunden. Derrida kritisiert an Mauss’ Ansatz der Gabe, dass Mauss durch die Reziprozität der ökonomischen Tauschlogik aufsitzt. Jede Gabe, die reziprok eine andere Gabe auslöst, sei keine Gabe, sondern eigentlich ein Tausch und – verkürzt gesagt – entspreche damit der kapitalistischen Tauschlogik. Das Ideal, das Derrida fordert oder zumindest als Ideal beibehalten möchte, ist die sogenannte reine Gabe.

2. Biblische Aspekte

Der evangelisch-lutherische Theologe Wolfgang Stegemann hat in mehreren neueren Publikationen darauf hingewiesen, dass die gesamte antike Welt und so auch die Kultur des Mittelmeerraums, dem das Neue Testament entspringt, eine Kultur der Reziprozität darstellt. Anhand vieler neutestamentlicher Stellen führt Stegemann aus, dass mehrere Ebenen der Reziprozität im Neuen Testament und vor allem in den Reden und Gleichnissen Jesu existieren.

So unterscheidet er zwischen einer unmittelbaren/generellen Reziprozität in Haus und Großfamilie, einer vermittelten Reziprozität im Kontext des Dorfes oder des Stammes und einer intertribalen Reziprozität, bei der Geschäfte und auch Gewinne gemacht werden dürfen. Darüber hinaus existiert eine transzendente Reziprozität: Können Arme nicht zurückgeben, tritt an ihre Stelle – in diesem Leben oder nach dem Tod – Gott als Instanz ein, um die Wechselseitigkeit zu gewähren. Stegemann steht also sehr bewusst in der Tradition von Mauss und versteht auch das Geben als einen Transformationsprozess, durch den sich Gebende, Empfangende und die Gemeinschaft verändern.

Mitte der 1960er Jahre hatte der Frankfurter Neutestamentler Dieter Georgi die Sammlung für die Armen in Jerusalem systematisch ausgewertet, die sogenannte Kollekte des Paulus, um daraus weitere Kriterien zu gewinnen, wie das Geben, Schenken und Stiften biblisch-theologisch fundiert, inspiriert und reflektiert werden kann. Die Sammlung für die Armen oder Heiligen in Jerusalem war nicht nur ein Herzensanliegen, sondern auch eines der Lebensprojekte des Paulus von Tharsus.

Auf dem Apostelkonzil vereinbart, war für Paulus die Kollekte selbst Gradmesser für die Wirksamkeit des Evangeliums in der Welt. Durchgehend in seinen Briefen, aber vor allem im achten und neunten Kapitel des zweiten Korintherbriefes wirbt Paulus leidenschaftlich, rhetorisch brillant und mit einem hinreißenden Charme für diese Sache. Die Kollekte muss ihre Bewährungsprobe bestehen, aus freien Stücken erfolgen und nicht unter Zwang geschehen.

Im Anschluss an die Arbeiten von Dieter Georgi und Magdalene L. Frettlöh sind vier Kriterien zu benennen, die für die Gabe der Kollekte bezeichnend sind:

  • Sie teilt und verteilt die Charis, die Gnade Gottes.
  • Sie ist der Gradmesser für die Glaubwürdigkeit der christlichen Koinonia (Gemeinschaft).
  • Sie zielt auf einen guten und gerechten Ausgleich zwischen den Gemeinden.
  • Und: Das Geben in der Kollekte bezeichnet Paulus als Leiturgia, als Gottesdienst.

Ad 1: Die Kollekte als Charis Gottes

„Charis ist das Leitmotiv der paulinischen Werbekampagne für die Jerusalemer Kollekte.“ In der Kollekte kommt die Charis Gottes zum Ausdruck. Mehr noch, indem Paulus für beides – das göttliche Geben und Nehmen und das menschliche Geben und Nehmen – denselben Begriff der Charis gebraucht, verschränkt er die göttliche Gerechtigkeit und das menschliche Tun in einer nahezu ununterscheidbaren Weise. Gott gibt: reichlich und großzügig, üppig und überschwänglich, aus der Fülle und begabt überreich; Gott macht in Christus eine „Vorgabe“, und dieser „Überfluss“ der Charis wird zwischen den Gemeinden weitergegeben.

Paulus steigert dieses Motiv noch, wenn er die Zirkulation der Charis, die von Gott ihren Ausgang nimmt und unter den Gemeinden verteilt wird, dann als Dank und als eu-charistia – „angereichert“ – zu Gott zurückkehren sieht. Die Gaben werden nicht gehortet und akkumuliert, sondern frei flottierend, freiwillig und ohne Zwang verteilt und weitergegeben. Und bei alledem gilt: Die Gaben sind nicht verfügbar, können nicht befohlen oder angeordnet werden.

Es ist besonders auf die Vorstellung von der Gnade und auf die Vorstellung des Gottes, der diese Gnade zukommen lässt, hinzuweisen: Paulus gebraucht Motive des Überflusses, des Überströmens, des Überreichseins und verstärkt dies durch andere Worte und Begriffe, die den Reichtum und die Fülle des Vorgangs zum Ausdruck bringen. Der Gott der Charis ist ein großzügiger Gott. Und die Ethik, die dieser Charis entspricht, ist eine Ethik der Großzügigkeit. Magdalene Frettlöh spricht deshalb vom „Charme der Gabe“, was das Ereignis sehr anschaulich macht.

Ad 2: Ausgleich als Ziel der Gabe

Die Kollekte für die Jerusalemer Gemeinde ist keine isolierte Spendenaktion und keine einmalige solidarische Hilfe für die armen Judenchristen in Palästina. Es geht um das Selbstverständnis der einzelnen Gemeinden und um das Selbstverständnis der christlichen Gemeinschaft als Ganze. Paulus plädiert für einen Ausgleich als Ziel der Gabe. Nicht in einer asymmetrischen Weise, dass die reicheren Gemeinden den weniger wohlhabenden etwas von ihrem Hab und Gut abgeben, sondern als Ausdruck der Diakonia ist das Geben und Nehmen ein wechselseitiges, reziprokes Gebeereignis.

Die Gemeinden bedürfen einander und profitieren von den unterschiedlichen Charismen, die in den Einzelgemeinden vertreten sind. Die Kollekte symbolisiert somit nicht einen einseitigen Güteraustausch oder eine einseitige Güterverschiebung von den Reichen hin zu den Armen im Sinne der „milden Gabe“, sondern konstituiert ein Austauschverhältnis: „Die vor Gott gleich sind, sollen es auch untereinander werden.“ Denn auch die korinthische Gemeinde wird beschenkt, weil sie der Jerusalemer Gemeinde den Zugang zum Gott Israels verdankt.

Paulus zitiert in diesem Zusammenhang das Brotwunder der Exodusgeschichte: „Wer viel gesammelt hatte, hatte keinen Überfluss; und wer wenig gesammelt hatte, hatte keinen Mangel.“ (Ex 16,18) Der Gabentausch zwischen der Jerusalemer Gemeinde und den neu gegründeten (juden- und heidenchristlichen) Gemeinden des Paulus wird somit aus der Sicht des Paulus zu einem Speisewunder, indem der jeweilige Überfluss geteilt wird und es so zu einem Geben und Nehmen auf beiden Seiten – und schließlich: zu einem Ausgleich – kommt. Nicht Scham und Demütigung sind die Gefühlslagen der Beschenkten, sondern das selbstbewusste Wissen, selbst Katalysator der göttlichen Gnade zu sein.

Ad 3: Gabe als integrierendes Band zwischen den Gemeinden

Die Kollekte wird zum einigenden sozialen Band der Gemeinden untereinander, stiftet Beziehung und ist als freiwillige Gabe Antwort auf die „überschwängliche Charis Gottes“ (2. Korinther 9,15). Sie ist Ausdruck der Solidarität, des Bundes und der Koinonia. Paulus bezeichnet die Kollekte selbst als Koinonia, als gemeinschaftsstiftende und symbolisierende Integration christlichen Lebens. Zugleich setzt Paulus mit eleganten rhetorischen Mitteln darauf, den Wettbewerb der Gemeinden untereinander anzuspornen.

Es geht auch um Ruhm, um Prestige und Image der jeweiligen Gemeinde. Die jungen Gemeinden in Makedonien, Achaia und Korinth sollen konkurrieren in der Bereitwilligkeit, Freude und Lust, mit der sie sich auf die Kollekte einlassen, und in der Höhe ihrer Spenden. Die Kollekte repräsentiert als Koinonia die Einheit der Gemeinden. Sie ist Ausdruck des gemeinsamen Glaubens und damit das sichtbare gemeinsame Band, dem eine integrierende/integrative Funktion zukommt.

Ad 4: Das Geben als angemessener Gottesdienst

Das Geben wird selbst Leiturgia, ein angemessener Gottesdienst, als Response auf Gottes großzügiges zuvorkommendes Geben. Gott der Geber aller Gaben verausgabt sich und ihm wird durch das Entsprechungsverhältnis des Weiter-Gebens dafür gedankt. Die Gabe ist alltäglicher Gottesdienst, in ihr wird Gott für seinen Reichtum gedankt, und in ihr verschränken sich die Gnade, die Gerechtigkeit und wohl auch Schönheit und Charme des Gebens und Nehmens.

Nach dem phänomenologischen Zugang über Mauss hat die Paulus-Exegese nun eine stärkere Systematisierung möglich gemacht. Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass auch der paulinische Befund die Gabe als Gradmesser für die Qualität einer Sozialität ansieht und der Gabe eine sozialintegrative Funktion zuschreibt. Der Aspekt der Gleichheit und Reziprozität kehrt bei Paulus wieder und wird dort präzisiert. Es geht um einen gerechten Ausgleich innerhalb der Gemeinden. Was bei Mauss als Geist der Gabe kennengelernt werden konnte, konkretisiert Paulus für die christliche Gemeinde als das Teilen und Weitergeben der Charis Gottes.

3. Irdische Güter gegen himmlische eintauschen

Die Verschränkung von Gott und Geld, Ökonomie und Religion war für die Christusgläubigen bereits in den frühen Gemeinden selbstverständlich und nicht anders denkbar. Geld in Form von Almosengeben diente dazu, die unüberbrückbaren Gegensätze von Himmel und Erde, Gott und Menschen, aber auch die zwischen Reichen und Armen und den vielfältigen Gruppen sozialer, sprachlicher und geografischer Herkunft aus dem gesamten Römischen Reich zusammenzuführen und damit zu einer Gemeinschaft zu verschmelzen, die, wie es die Apostelgeschichte glauben machen will, beständig sein sollte in der „Lehre der Apostel, in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet“.

Es war eine Gütergemeinschaft at its best, in der alles geteilt wurde: „Die Menge der Gläubigen aber war ein Herz und eine Seele: auch nicht einer sagte von seinen Gütern, dass sie sein wären, sondern es war ihnen alles gemeinsam.“ (Apostelgeschichte 4,32)

Gott und Geld werden zusammengedacht; Ökonomie und Religion sind in der Antike aufeinander bezogen. Und das Geld ist, wie zu sehen sein wird, eine Art Kitt und Medium der Verbindung, vor allem zwischen Diesseits und Jenseits. Hier kommt ein Gemeinschaftskonzept zum Vorschein, das weniger die historische Realität beschreibt, als die massiv vorhandenen tiefgreifenden Spaltungen und Gräben in der Gemeinde hervortreten lässt, die durch eine neue Normierung christlichen Lebens überbrückt werden sollten.

Aber nicht durch ein „Gleichmachen“ von Reichen und Armen, sondern vielmehr dadurch, dass die Reichen etwas von ihrem Reichtum abgeben sollten, und zwar durch Geldspenden zugunsten der Gemeinde. Dies sollte jedoch nicht ohne Gegenleistung erfolgen. Grundgelegt war die Idee des neuen Tauschverhältnisses in der Aufforderung Jesu an einen reichen Jüngling: „Jesus sprach zu ihm: Wenn du vollkommen sein willst, so geh hin, verkaufe deine Habe und gib den Erlös den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben“ (Matthäus 19,21; vgl. Markus 10,21 und Lukas 18,22).

Auch der Rat an die Jünger – „Verkauft, was ihr habt, und gebt Almosen. Macht euch Geldbeutel, die nicht altern, einen Schatz, der niemals abnimmt, im Himmel, wo sich kein Dieb naht, und den keine Motten fressen“ (Lukas 12,33) – wurde als Norm herauspräpariert. Die von Jesus intendierte radikale Absage an den Reichtum ließ sich allerdings nicht wirklich durchsetzen, war auch nicht erwünscht und hätte die Gemeinden über kurz oder lang wirtschaftlich an ihr Ende gebracht.

Peter Brown ist in seiner neueren und spannenden Untersuchung Der Preis des ewigen Lebens zahlreichen Beispielen im frühen Christentum nachgegangen, die zeigen, dass die Vorstellung der „Überweisung“ irdischer Schätze in den Himmel und die „Thesaurierung“ himmlischen Kapitals dahingehend umgedeutet wurde, dass es auch durch kleinere, aber kontinuierliche Spenden für die Reichen sowie für die weniger Betuchten möglich war, sich durch das Almosengeben einen Schatz im Himmel anzusammeln oder durch irdische Wohltaten sogar „ewige Hütten“ und eigene „himmlische Wohnungen“ – oder gar Paläste – zu errichten, sozusagen in ein „karitatives Bausparen“ zu investieren.

Wenn heute ein solchermaßen „almosenbasierter Schatztransfer“ peinlich berührt und empört, die Schamesröte ins Gesicht treibt, moralisch verwerflich, strategisch und überaus egoistisch erscheint, liegt das freilich an dem gewandelten Verständnis von Ökonomie und Religion, das uns von den Vorfahren unterscheidet, ja trennt.

Ethnologen wie Jonathan Perry haben darauf hingewiesen, dass sich der heutige Tauschbegriff erst mit der „kommerziellen Revolution“ der Neuzeit herausgebildet habe. Er stellt fest:

„indem ökonomische Transaktionen immer deutlicher von anderen Formen sozialer Beziehungen unterschieden werden, kommt es zu einer immer stärkeren symbolisch-ideologischen Polarisierung der Transaktionsarten, die für jede dieser Beziehungsformen als angemessen betrachtet werden. […]

Im westlichen Denken hat man sich so auf die Unterscheidung der beiden Tauschzyklen versteift [gemeint sind die religiösen Beziehungen zum Himmel auf der einen und die irdischen Geschäftsbedingungen auf der anderen Seite], dass es ganz und gar unmöglich geworden ist, sich die Mechanismen, durch die sie verbunden werden, auch nur vorzustellen.“


Und Brown spitzt diese Erkenntnis zu: „Tatsächlich kommt uns der Gedanke an eine solche Verbindung von Religion und Kommerz heutzutage nicht mehr wie ein harmloses Gedankenexperiment vor – sondern viel eher wie ein geschmackloser Scherz“. Für die frühen Christusgläubigen in den Gemeinden hingegen war diese Form, irdische Güter gegen himmlische einzutauschen und sich mit großen und kleinen Almosen einen Schatz im Himmel zu erwerben, legitim, gottgefällig und dem Verständnis der Nächstenliebe Jesu konform.

Die Gabe des Almosens war zudem von Beginn an verbunden mit der Memoria, der Totenerinnerung, und stellt damit eine Anknüpfung an die kulturellen und religiösen Gepflogenheiten der antiken Umwelt und deren Weiterführung dar. Das Erinnerungsmahl am Todestag mit einer opulenten Mahlzeit am Grab war Usus, gehörte zur Ehrerbietung gegenüber den Verstorbenen und diente dazu, dass die Lebenden die Toten nicht vergaßen. Die Christusgläubigen akzentuierten diese Memoria nun in zwei Richtungen.

Zum einen ging es weiterhin darum, dass die Lebenden die Toten nicht vergaßen. Zum anderen entwickelte sich die Überzeugung, dass die Toten, vor allem die Märtyrer und Heiligen, für die Lebenden bei Gott Fürbitte halten würden und dafür sorgten, dass Gott die Lebenden nicht vergaß.

In San Sebastiano, einer der ältesten Katakomben in Rom, in denen Menschen bestattet wurden, die zur römischen christlichen Gemeinde gehörten, an der Via Appia gelegen, findet sich diese Inschrift:

Petre et Paulo, in mente habetote.
Spiritus sancte, in mente habetote.

Paulus und Petrus, habt uns im Sinn.
Heilige Geister, behaltet uns im Sinn.


An den Gräbern fanden auch bei den frühen Christen weiterhin Gedenkfeiern mit Gedenkmahlen statt. Damit wurde durch die Finanzierung der Gedenkmahle, die der Memoria der Toten dienten, auch die Finanzierung des Gedenkens bei Gott durch die Toten mit Geld verbunden und die Verbindung in die andere Welt hergestellt. Später wurden die Gräber der Heiligen mit Kirchen überbaut, in denen das eigene Grab gerne in der Nähe der Heiligengräber angelegt wurde – je nach der Größe des eigenen Geldbeutels oder der eigenen Funktion in der Ämterhierarchie.

Im 4. Jahrhundert erhielten die christlichen Gemeinden durch Kaiser Konstantin Privilegien, Schutz vor Verfolgung und zunehmende Aufmerksamkeit. Die vermögende Oberschicht des Römischen Reiches wurde nun vermehrt Mitglied der christlichen Gemeinden. Zugleich entstand eine unfassbare neue Menge an Armen, die sich um die ebenfalls vermehrt entstandenen Kirchen als Bettler:innen sammelten und versorgt werden mussten – und die nicht, wie zuvor, als Witwen und Waisen benachteiligte Mitglieder der Gemeinden waren. Auch theologisch hatte sich inzwischen ein zentraler Wandel vollzogen, der das christliche Verständnis von Schuld, Sünde und Buße betraf.

Zunehmend machten sich die Gläubigen Gedanken darum, die nach der Taufe begangene Sünde und die auf sich geladene Schuld im Diesseits zu kompensieren, damit man nach dem Tode nicht zu lange in dem Zwischenbereich ausharren musste, bis Christus bei seiner Wiederkunft Gericht abhalten würde. Augustinus (354–430), einer der großen Kirchenväter, erhielt unzählige Briefe zu dieser Frage, wie man zeitliche Sünden ableisten oder „bezahlen“ könnte, um bei Gott im Gericht Gnade zu erlangen.

Eine Antwort, die sein rigoristischer Gegner Pelagius (gest. 418) den Christen vorschlug, war der Rekurs auf die bekannte Geschichte des Reichen Jünglings: Es solle alles den Armen gegeben werden. Augustinus jedoch, Bischof von Hippo, einer prosperierenden Stadt in Nordafrika mit einer reichen christlichen Gemeinde, sah dies anders und aktualisierte den Gedanken, einen Schatz im Himmel zu erwerben, insbesondere mit Blick auf die neuen und reichen Gemeindemitglieder folgendermaßen:

Er nahm eine Transformation des bisherigen römischen Verständnisses der „Wohltätigkeit“, der salus publica, vor. Die bisherige etablierte jahrhundertelange Praxis des städtischen Adels – der „bürgerschaftliche Euergetismus“ –, Volksfestspiele zu organisieren und sich dadurch auch den Armen als Wohltäter erkenntlich zu zeigen und zur antiken salus publica beizutragen, wurde christlich fokussiert. Statt den „Circus“ zu organisieren, ging es nun darum, dieses Geld für fromme Werke zu geben: für die Versorgung der vielen namenlosen Armen, die materielle Unterstützung des Klerus und den Unterhalt und Bau von Kirchen.

Was den Kirchenbau anbetraf, war dies übrigens geradezu ein „Schnäppchen“, da der Bau einer Kirche lediglich mit einem Zehntel der bisherigen Finanzierung von Brot und Spielen zu Buche schlug. Zugleich war aber auch schon für das Seelenheil nach dem Tode gesorgt, da Gott ganz sicher einen solchen Spendenden mit gnädigen Augen betrachten würde.

Augustinus hat diese Überzeugung in einer ganzen Predigt-Kampagne ausgearbeitet, Modellpredigten zum Almosengeben, die auch für den Klerus seiner Diözese gedacht waren und das rivalisierende überkommene antike Gabesystem des bürgerschaftlichen Euergetismus in seine Grenzen verwies bzw. als unmoralische Geldverschwendung einer vergangenen Zeit definierte. Zudem versicherte er, dass auch das kleinste Almosen in den Himmel transferiert und Gnade vor Gott finden würde sowie Vergebung von Schuld mit sich brächte. Jeder konnte sich daran beteiligen. Und im Sinne der Memoria war eine Gabe an die Kirche, so Augustinus, wie jener Teil des Familienerbes, der eigentlich an einen verstorbenen Sohn gegangen wäre.

Peter Brown kommt zu dem Schluss: „Eine ganze Gesellschaft rang plötzlich mit ihrem Selbstbild. Als Folge wurde die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich – und zugleich der nachdrückliche Hinweis auf die Pflichten der Reichen den Armen gegenüber – ideologisch aufgeladen, wie sie es noch nie zuvor in der antiken Welt gewesen war.“ Der Aspekt des Almosengebens und der Sühne zeitlicher Sünden wurde im Mittelalter theologisch weiterentwickelt. Es wurden Klöster gestiftet, reich ausgestattet und als „Gebetskraftwerke“ (Brown) für das Seelenheil der Stifterinnen und Stifter eingerichtet.

„Irdische Güter in himmlische eintauschen“ – diese Formulierung findet sich in vielen Stiftungen und Testamenten der folgenden Jahrhunderte und hat massiv zur Ausgestaltung nicht nur des Kirchenbesitzes, sondern auch zum Reichtum und Selbstbewusstsein der aufstrebenden Städtekultur beigetragen. Die Armen, die durch die Stiftungen in den Klöstern, den Hospitälern und Kirchen versorgt wurden, hatten ihrerseits die Aufgabe, durch Gebete die Erinnerung an den Stifter vor Gott wachzuhalten.

Ab dem 11. Jahrhundert wurden Predigtstellen, Altäre und Messstipendien für die Verstorbenen eingerichtet, mit der Aufgabe, zu bestimmten Zeiten im Jahr eine Messe, ein sogenanntes Seelgerät, für den jeweiligen Verstorbenen zu halten und um die Verkürzung im Fegefeuer zu bitten. Diese Messen erfolgten durch die Priester, die extra dafür angestellt waren, auch ohne Gemeinde. Ablässe gegen Geld für allerlei Gelegenheiten wurden eingeführt und zeigen eine intensive Jenseitsfokussierung und Memorialkultur der Gläubigen, die das irdische Leben schon einmal auf die Zeit nach dem Tod „in Rechnung“ stellte.

4. Geben und Gestalten

Es ist bemerkenswert, dass gerade im Protestantismus und interessanterweise nach der Reformation ausführliche Stiftungsgründungen existierten: Kirchen, in denen sich Stifterinnen und Stifter durch das Stiften von Orgeln, Bildern, Altären, liturgischen Gegenständen und Kirchenbänken engagierten, die Armenpflege in den Gemeinden unterstützten oder mit Stipendienstiftungen den theologischen Nachwuchs förderten. Entgegen der lang vertretenen Meinung, das Stiftungswesen sei mit der Reformation in die Krise geraten, ist heute wieder deutlich zu sehen, wie das freiwillige Geben, Schenken und Stiften nach der Reformation nicht abbrach, sondern neu gedeutet wurde.

Philipp von Hessen (1504–1567), der wichtige Repräsentant der Reformation, ist selbst mit seinen Landesherrlichen Stiftungen der vier Landeshospitäler vorangegangen und hat die Klöster in kostenlose Hospitäler umgewandelt, damit sie seinem neuen reformatorischen Konzept des „Gemeinen Nutzens“ zugutekommen konnten. Drei davon existieren noch heute. Es findet sich nicht nur diese Form fürstlicher, evangelischer Armenfürsorge im Protestantismus. In den evangelischen Reichsstädten insgesamt gibt es eine ausgeprägte Mentalität, der Stadt Bestes zu suchen.

Konstitutiv war dabei die Beförderung der gesellschaftlichen Belange im Sinne eines neuen protestantischen Selbstverständnisses. So haben sich gerade nach der Reformation die Evangelischen für die städtische Armenfürsorge mit ihren privaten Mitteln eingesetzt und den Neubau – samt Innenausstattung – von Kirchen finanziert, die dem neuen evangelischen Raumkonzept entsprachen: mit Orgel, Altar, Kanzel und liturgischem Gerät. Auch die künstlerisch wertvollen, neuen evangelischen Bildprogramme an den Emporen – oder sonstige Kunst im Kirchenraum – standen im Interesse der Stifterinnen und Stifter.

Zudem wurde durch großzügige Gaben das gesamte Bildungssystem im evangelischen Bereich strukturiert. Heute wird das umfassende Stipendienwesen in den evangelischen Reichsstädten Nürnberg oder Ulm neu entdeckt, aber auch in den landesherrlichen Universitätsstädten wie Tübingen, Marburg oder Jena. Auch hier haben solvente Geber und Stifter, darunter übrigens auch viele Frauen, das Bildungssystem – vor allem die Ausbildung der Theologiestudierenden – finanziert und gesichert.

Für den evangelischen Kontext können somit mindestens drei Bereiche genannt werden, in denen nach der Reformation das großzügige Geben, Spenden und Stiften eine Rolle spielte: erstens in der Finanzierung der Pfarrstellen in den Gemeinden samt der Stiftungen für protestantischen Kirchenbau, zweitens in der Armenfürsorge im Sinne des Gemeinen Nutzens (die diakonische Arbeit) und drittens in Anschubfinanzierungen, um ein innovatives Bildungssystem auf den Weg zu bringen.

Es handelt sich also beim Geben und Stiften nach der Reformation sehr stark um ein Gestaltungsmoment der urbanen Gesellschaft. Diejenigen, die gaben, wollten Kirche und Gesellschaft gestalten. Damit brachte die Reformation eine entscheidende Wende im Hinblick auf die Motivation des mittelalterlichen Gabehandelns: Der mittelalterliche Mensch stiftete, um „irdische Güter gegen himmlische einzutauschen“, um für sein Seelenheil nach dem Tode zu sorgen, die Zeit im Fegefeuer zu verkürzen und seine guten Taten von Gott angerechnet zu bekommen. Den evangelischen Stifter:innen ging es um die Gestaltung der Gegenwart als Dank für die von Gott – ohne eigenes Zutun – erhaltene großzügige Gnade.

5. Schluss

Zusammenfassend sind diese Ausführungen in wenigen Sätzen zu fokussieren:
Dem Christentum in seiner Entstehungszeit in der Antike ist die Unterscheidung von Ökonomie und Religion mindestens fremd, wenn nicht komplett äußerlich. Das Empfangen, Annehmen und Weitergeben der Charis Gottes bezieht sich sowohl auf die religiöse Dimension der Gnade als auch auf die ökonomische Dimension des Geldes. In der Charis geht es um die Konstitution von Sozialität, um Gerechtigkeit sowie um das angemessene Gottesverhältnis.

Das Spenden und Stiften kann als Medium bezeichnet werden, unterschiedliche Dimensionen zwischen Arm und Reich, Lebenden und Toten, irdischen und himmlischen Gütern miteinander zu verbinden und aufeinander zu beziehen. Die Diesseits- und Jenseits-Orientierung scheint mir dabei ein Spezifikum des Christentums zu sein.

Schließlich ist der starke Gestaltungsaspekt im Christentum hervorzuheben, der bei Paulus und in der mittelalterlichen Theologie schon angelegt war, durch die Reformation aber noch einmal expliziert und ins Zentrum gestellt worden ist.

Über den Autor

Prof. Dr. Thomas Kreuzer ist seit 1999 Geschäftsführender Direktor der Fundraising Akademie in Frankfurt am Main und Professor an der Hochschule Ökonomie und Management in Frankfurt am Main. Studium der Theologie, Philosophie und Gesellschaftswissenschaften in Frankfurt am Main, Rom und Heidelberg. Promotion zum Dr. theol.; Studiengang zum Kommunikationswirt (GEP). In seinen Publikationen, Vorträgen und Beratungen widmet sich Thomas Kreuzer den Themen Fundraising, Strategieentwicklung, Governance und Philanthropie. Zahlreiche Gremienmitgliedschaften in Stiftungen oder Vereinigungen des gemeinnützigen Sektors. 2019 erhielt er den Deutschen Fundraising-Preis für sein Lebenswerk.